Demenz-Expertin mit Herz | Die Wirtschaftsfrau
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Yardena Sierra ist als Pflegefachfrau HF tätig und hat ein eigenes Unternehmen gegründet.

Demenz-Expertin mit Herz

Grüezi Frau Sierra. Was machen Sie beruflich?

Sie werden sich wundern: Ich begann meine „Expertise“ bereits im Alter von sieben Jahren. Damals durfte ich meine Mutter jeden Mittwochnachmittag an ihrem Arbeitsort besuchen. Sie arbeitete in einer integrativen Abteilung eines Pflegezentrums, in welcher unter anderem Menschen mit Demenz betreut wurden. Interessanterweise konnte ich mich mit den Menschen, die von einer Demenzform betroffen waren, besonders gut auseinandersetzen.

Ich sah die Betroffenen immer wieder lachen.

Das empfand ich bereits dazumal als sehr bewundernswert. Als ich nach einem Akut-Praktikum für meine Abschlussprüfung als Pflegefachfrau HF in die Langzeitpflege auf eine spezialisierte Wohngruppe für Menschen mit Demenz eingeteilt wurde,
war mir zuerst etwas mulmig zumute. Ich hatte damals noch keine praktischen Erfahrungen mit dieser Thematik. War ich dem überhaupt gewachsen? Schnell konnte ich jedoch feststellen, dass ich dort genau am richtigen Platz war und diese Menschen noch sehr viele Ressourcen besitzen. Und genau das fasziniert mich auch heute noch. Ich war und bin stets neugierig, mehr zu dieser Thematik zu erfahren. Ich setzte mich ein für die Bildung von Lernenden für spezialisierte Wohngruppen, machte verschiedene Weiterbildungen. Jetzt als Demenz-Expertin begleite und betreue ich die Angehörigen und das soziale Umfeld in der Thematik Demenz. Über Demenz wird nicht gerne gesprochen, in unserer Gesellschaft ist das noch ganz stark ein Tabuthema. Demenz wird mit Alter verknüpft. Daher wird es oft als noch nicht präsent angeschaut, wird ignoriert. Stellen Sie sich mal vor, ein Familienmitglied sei an einer Demenzform betroffen. Das Verhalten verändert sich, das Unwissen führt schnell zu einer Hilflosigkeit, einer gewissen Ohnmacht.

Ein herausforderndes Verhalten kann den Alltag prägen.

Und plötzlich wird darüber nicht mehr gesprochen. Es braucht noch Zeit, bis wir in der Gesellschaft lernen, dass Betroffene sich wohl verändern, doch der Mensch bleibt, mit Emotionen und Gefühlen, die ebenfalls so gelebt werden sollen wie sie sind. Im Hier und Jetzt.

Welche Kosten entstehen durch die Erkrankung an Demenz? Was sind allenfalls versteckte Kosten, welche auf den ersten Blick nicht gleich ersichtlich sind?

Eine wissenschaftliche Studie im Auftrag der Schweizerischen Alzheimervereinigung zeigt, dass Demenzkrankheiten heute Kosten von insgesamt 6.3 Milliarden Franken pro Jahr verursachen. Und die Kosten könnten bis 2050 regelrecht explodieren, denn laut Prognosen leben dann drei Mal mehr Personen mit Demenz in der Schweiz. Die Studie zeigt auch, dass die Betreuung von Menschen mit Demenz zu Hause kostengünstiger als im Heim ist. Heute stehen wir also vor zwei grossen Herausforderungen: Finanzierung der Demenzkosten und Betreuung der Betroffenen. Wir brauchen eine effiziente Strategie zur Hilfe und Unterstützung von Kranken und Angehörigen, damit ein Leben zu Hause so lange wie gewünscht und sinnvoll möglich ist und die Kosten im Griff gehalten werden können.

Die Kosten der Demenz, 6.5 Mrd. Franken im Jahr 2015, setzen sich aus direkten und indirekten Kosten zusammen. Die direkten Kosten (3.5 Mrd. Franken) belasten das Gesundheitswesen. Zu ihnen zählen die Diagnose und Behandlung wie Arztbesuche, interdisziplinäre Diagnostik und Medikamente sowie Spitex, Spital- oder Heimaufenthalte. Dies entspricht einem Anteil von 6.3% an den Gesamtkosten des Gesundheitswesens in der Schweiz (55.5 Mrd. Franken im Jahr 2017). Die indirekten Kosten (3.3 Mrd. Franken) werden von den Angehörigen getragen: Sie entsprechen dem Marktwert der Betreuungs- und Pflegeleistungen, die sie erbringen. Heute werden diese Kosten nicht über das Gesundheitssystem finanziert. Dies könnte sich aber in Zukunft ändern. Wenn die Angehörigen weniger Betreuungs- und Pflegeaufgaben übernehmen können (veränderte Familienstrukturen, Distanz zwischen Wohnorten, Erwerbstätigkeit der Frauen etc.), ist mit entsprechend höheren Gesundheitsausgaben zu rechnen. 90% der Gesamtkosten sind Pflege- und Betreuungskosten. Da die Behandlungsmöglichkeiten sehr beschränkt sind, fallen nur geringe Behandlungskosten an. Es sind in erster Linie Pflege und Betreuung sowie die im Verlauf der Krankheit zunehmend notwendige Präsenz, die hohe (Personal-) Kosten verursachen. Im Jahr 2015 machten die Pflege- und Betreuungskosten insgesamt für im Heim und zu Hause lebende Betroffene 90% der Gesamtkosten der Demenz aus. Heute leben 60% der Menschen mit Demenz zu Hause und nur 40% in einem Heim. Die Kranken können insbesondere deshalb zu Hause leben, weil die Angehörigen sie unentgeltlich pflegen und betreuen und auf ihre speziellen Bedürfnisse eingehen können. Finanziell gesehen ist dies die günstigste Lösung für die Gesell- schaft, denn die Durchschnittskosten pro demenzkranker Person, die zu Hause betreut wird, sind um 20% tiefer als für eine im Heim betreute Person. Und betrachtet man nur die direkten Kosten, ohne Berücksichtigung der unentgeltlichen Leistungen der Angehörigen, kostet ein Aufenthalt zu Hause sogar 87% weniger als im Heim. Die Betreuung zu Hause kostet im Durchschnitt pro Person und pro Jahr 55’301.- Franken und in einem Heim 68’891.- Franken.

Rubrik

gefragt

Ausgabe

Wirtschaft und Finanzen

Yardena Sierra

Geburtsdatum
12.08.1980

Nationalität
Schweiz

Beruf
Pflegefachfrau HF

Zivilstand
geschieden

Webseite
inmente.ch

Info
Frau Sierra machte 2001 den Abschluss zur Pflegefachfrau HF. 2012 übernahm sie die Leitung einer Demenzwohngruppe. Fünf Jahr später startete sie als Demenz-Expertin in die Selbstständigkeit. Seit 2018 ist sie zudem Bildungsverantwortliche für eine Demenzwohngruppe. Sie hat verschiedene Weiterbildungen in den Bereichen Demenz, Aggressionsmanagement und Resilienz besucht und verfügt über den Eidgenössischen Fähigkeitsausweis Teamleitung.

Gut zu Wissen

Bei Demenz handelt es sich um eine Gehirnerkrankung, mit welcher zunehmender Gedächtnisverlust einhergeht. Die bekannteste Form von Demenz ist die Alzheimer-Demenz, diese tritt mit 50-70% aller Demenzkrankheiten auch am häufigsten auf. Als Risikofaktoren gelten unter anderem das weibliche Geschlecht, ein niedriger Bildungsstatus sowie Demenz bei Verwandten ersten Grades. Der Hauptrisikofaktor ist jedoch ein hohes Lebensalter.

Und auf welche Höhe belaufen sich diese Kosten ungefähr?

Kosten steigen mit zunehmendem Schweregrad der Krankheit. Für zu Hause lebende Kranke betragen die Durchschnittskosten pro Person gemäss Schätzungen im Anfangsstadium 26’186.- Franken (25’500 Kranke), im mittleren Stadium 67’743.- Franken
(28’560 Kranke) und im fortgeschrittenen Stadium 122’023.- Franken (6’120 Kranke). Für Menschen mit Demenz, die zu Hause leben, werden von diesen Kosten höchstens 13’000.- Franken über das Gesundheitssystem finanziert, auch im fortgeschrittenen Stadium
der Krankheit. Die restlichen Kosten werden in Form von Pflege- und Betreuungsleistungen von den Angehörigen übernommen. Die Durchschnittskosten im Heim (41’820 Kranke) können nicht nach Schweregrad differenziert werden. Im fortgeschrittenen Stadium werden die indirekten Kosten für die Angehörigen aber so gross, dass eine Betreuung im Heim kostengünstiger ist.

Wie viele Leute sind betroffen, die sich noch im berufstätigen Alter befinden?

Eine genaue Zahl zu nennen ist hier sehr schwierig. Gezielte Fakten habe ich nicht dazu.

Aber auch jüngere Menschen sind bereits davon betroffen, ab 40+.

Diese sind natürlich noch ganz in der Berufswelt integriert.

Wie gehen Arbeitgeber damit um, wenn Arbeitnehmer an Demenz erkranken? Gibt es da momentan noch Verbesserungspotenzial?

Hier fehlen wie gesagt die Fakten. Ich sehe in diesem Punkt folgende Problematik: Die Gesellschaft ist schlichtweg überfordert mit solchen Diagnosen. Einerseits sind das die Betroffenen, die selbst in einer Lebenskrise sind und plötzlich mit der Diagnose Demenz konfrontiert werden. Oft sind Schamgefühle, die Angst, das Gesicht zu verlieren, ein grosses Thema. Auf der anderen Seite sind da die Arbeitgeber. Sind wir jetzt mal ehrlich, welcher Betrieb ist im Care Management auf solche Diagnosen versiert? Die wenigsten, meiner Meinung nach. Im Unwissen kann man die betroffenen Arbeitnehmenden nicht ressourcenorientiert unterstützen und schlussendlich nicht mehr aktiv im Arbeitsfeld einsetzen. Ich bin der Überzeugung, wenn die Arbeitgeber sich mit dieser Krankheit bewusster auseinandersetzten, würden sie eine gegenseitige konstruktive Zusammenarbeit gestalten können. Die Betroffen wollen einen Sinn haben.

Sie wollen so lang wie möglich im Arbeitsumfeld integriert bleiben.

Ihre Fähigkeiten, die sie noch besitzen, werden sehr oft unterschätzt. Ich bin überzeugt, wenn sie sich mit dem Thema bewusster auseinandersetzen, ist eine konstruktive Zusammenarbeit ein Gewinn für jedes Unternehmen. Betroffene optimal zu integrieren zeugt
von Respekt und Akzeptanz dem Menschen gegenüber. Wenn die Demenz akzeptiert ist, wir offen darüber reden und vor allem die Betroffenen bereit sind, ihr Erlebtes mitzuteilen, sind wir einen grossen Schritt weiter. Dann ist das Tabuthema Demenz integriert und die Arbeitgeber können den Arbeitsplatz optimieren.

Der Pflegebereich ist tendenziell eher durch Frauen besetzt. In den männerdominierten Bereichen zeichnet sich momentan eine Entwicklung zu mehr Durchmischung ab. Ist diese Entwicklung umgekehrt auch im Pflegebereich zu beobachten?

In der Tat ist im Pflegebereich die Zahl der Frauen höher. Die Pflegegeschichte entstand ursprünglich aus der Notwendigkeit heraus, kranke und schwächere Mitglieder der eigenen Familien oder Gemeinschaft zu versorgen. Die Norm war, dass die Frauen ja meistens im häuslichen Milieu tätig waren und dadurch auch diese pflegende Funktion übernahmen. Die Pflege hat sich enorm weiterentwickelt im fachlichen, praktischen und aber auch im wissenschaftlichen Bereich. Das ist gut so. Die Pflege soll weiterhin ein attraktiver Beruf sein, das soll dazu beitragen, junge Menschen zu motivieren und sich im Gesundheitsbereich auseinanderzusetzen.

Ich kenne keinen Arbeitsbereich, der so vielfältig ist wie die Pflege. Genau das macht es spannend und herausfordernd. Es ist grandios, zu sehen, dass Frauen auch in der noch überwiegenden Männerwelt des Pflegemanagements immer mehr Präsenz zeigen. Zu sehen, dass sie ihre Qualitäten im Führungs- und Managementwissen integrieren.

Die Frauen sind flexibel im Denken und gehen mit Visionen voran.

Das ist ein Qualitätsmerkmal, das nicht zu unterschätzen ist.

Sie haben Ihr Unternehmen alleine gegründet – als alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Beruf- und Privatleben?

Ich bin eine optimistische und positiv denkende Frau. Ich hatte eine Vision: Die beiden Passionen Businessfrau und Mutter zu kombinieren. Wieso sollte das nicht gehen? Wer hat gesagt, dass eine Mutter nicht auch eine Businessfrau sein kann? Ich wurde immer wieder mit Kritik konfrontiert.

Das Frauenbild einer Mutter, die ein Unternehmen führt, war für viele ein fremdes, nicht gerne gesehenes Bild.

Ich wurde oft gefragt, ob ich damit leben könne, Mutter zu sein und Karriere machen zu wollen. Dazu kam noch die Richtung meines Business: Schwerpunkt Demenz. Wenn ein Mann Manager eines Unternehmens ist, geschäftlich stark involviert ist, stellt sich niemand die Frage: Kann er das mit seinem, dem Gewissen vereinbaren, Vater und Manager zu sein. Für mich war immer klar, dass die Kinder mein Mittelpunkt sind.

Ich konnte Beruf und Privates immer schon gut trennen. Ja, es kamen einige Umwege, Niederlagen, Planänderungen und Nachtschichten dazu. Meine Familie stand immer hinter mir und half, wo es möglich war. Mein Optimismus und Humor begleitet mich alltäglich im meinem Handeln und Tun.

Folgende Ansätze habe ich verinnerlicht: Glaube an dich und habe den Mut, Fehler zu machen. Vergleiche dich nicht mit anderen, setze dir selbst Ziele, reflektiere und optimiere deine Handlungen. Lass dir helfen und lass dich beraten von Menschen, die bereits denselben Weg gemacht haben. Sei authentisch, liebe was du tust und lache, so oft du kannst.

Was treibt Sie an und gibt Ihnen die Inspiration dazu, sich so stark in diesem Bereich einzusetzen?

Demenz darf kein Tabuthema sein, denn es kann uns alle treffen. Die Betroffenen und Angehörigen müssen mehr dazu motiviert werden, sich Hilfestellung zu holen, Mut zu haben, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Isolation und Abgrenzung ist nicht der richtige Weg.

Nur, wenn wir als Gemeinschaft offen über das Thema reden, wird sich die Gesellschaft dieser Krankheit bewusster. Ich sehe tagtäglich die Ressourcen der Betroffenen und der Angehörigen. Das inspiriert mich immer wieder, mich für das Thema stark einzusetzen. Es gibt Glückswege mit Demenz, wir müssen nur offen dafür sein.

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