«In der ukrainischen Gesellschaft haben Frauen eine sehr starke Rolle» | Die Wirtschaftsfrau
Carmen Walker Späh: «Ich bin noch voller Tatendrang»
Diversity – Was sie will und warum
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Oksana Garnets hat die Ukraine im März 2022 verlassen und lebt seither in der Schweiz.

«In der ukrainischen Gesellschaft haben Frauen eine sehr starke Rolle»

Oksana Garnets ist leitende Projektkoordinatorin der NPO Despro. Sie sprach mit uns über die aktuelle Situation in ihrem Heimatland, der Ukraine, und welche Massnahmen die Organisation ergreift, um ihre Landsleute zu unterstützen.

Was für die meisten von uns nach wie vor unvorstellbar ist, ist für Tausende von Ukrainern traurige Realität. Seit Monaten sind sie mit den furchtbaren Auswirkungen der russischen Invasion konfrontiert. Oksana Garnets ist eine von ihnen. Sie ist leitende Projektkoordinatorin bei Despro, einer NPO, die sich auf die Unterstützung der Dezentralisierung in der Ukraine spezialisiert hat und eng mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie der Skat Foundation zusammenarbeitet.

Innerhalb der Ukraine steht die Organisation in engem Kontakt mit Entscheidungsträgern aus dem staatlichen Sektor. Gerade in der jetzigen Situation ist das ein entscheidender Vorteil, um die ukrainische Bevölkerung mit humanitären Bedürfnissen und dem Wiederaufbau von Gesundheitseinrichtungen zu unterstützen.

Die Wirtschaftsfrau: Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation in Ihrem Heimatland?

Oksana Garnets: Ich bin seit dem 16. März hier in der Schweiz. Wie viele Millionen andere Menschen musste ich mein Land verlassen, weil es zu gefährlich war. Ich hatte das Glück, von ehemaligen Kolleginnen von Skat eingeladen worden zu sein. Ich bin sehr dankbar, dass ich von hier aus weiter für Despro arbeiten kann.

Nichtsdestotrotz lebe ich jetzt in zwei parallelen Welten. Ich habe hier ein komfortables Leben und kann mit verschiedenen Organisationen an Projekten für die Ukraine arbeiten. Dieser Teil des Lebens sieht sehr normal und friedlich aus. Gleichzeitig verfolge ich den ganzen Tag lang die Nachrichten und ein Teil meiner Seele ist bei Verwandten, Freunden und allen anderen Menschen, die zurückgeblieben sind. Die ganze Zeit hat man dieses starke Gefühl. An einem Tag ist es besser, an einem anderen schlechter. Man denkt immer, hoffentlich ist dieser Person, die ich in dieser Stadt kenne, nichts passiert.

Wie haben sich Ihre Aufgaben und Schwerpunkte seit dem Ausbruch des Krieges verändert – gerade in Anbetracht dessen, dass sie weiterhin für Despro tätig sind?

Wir arbeiten weiterhin an zwei Projekten, die wir schon vor der russischen Invasion initiiert haben. Das ist zum einen ein Projekt mit der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit zur Unterstützung der Dezentralisierungsreform.

Als kurzer Exkurs: Durch diese Reform wurden in der Ukraine vor ein paar Jahren kleinere Gemeinden zu grösseren Gemeinden zusammengefasst. Das heisst, kleinere Siedlungen vor allem um grössere Städte wurden regierungstechnisch vereint. Die Menschen, die dort arbeiten, brauchen immer noch zusätzliche Schulungen, um sich auf diese neue Situation einzustellen. Darüber hinaus haben wir noch ein laufendes Projekt im Bereich der Abfallwirtschaft.

Durch die Kriegssituation ausgelöst helfen wir derzeit bei der Renovierung von Gesundheitseinrichtungen, die schwer beschädigt wurden. Wir versuchen, unsere Mittel dafür aufzustocken. Aber wir arbeiten weiter in den Bereichen, in denen wir langjährige Erfahrungen haben. Der Aufbau der Infrastruktur ist ein wichtiger Bereich der lokalen Selbstverwaltung. Oder eines unserer anderen Fachgebiete, die Wasserversorgung, wird bei der Renovierung der Gesundheitseinrichtungen eine wichtige Rolle spielen.

Der Aufbau dieser beschädigten Infrastruktur ist eher eine langfristige Massnahme, um dem Land zu helfen. Gab es auch unmittelbarere Massnahmen, die Sie ergriffen haben?

Wir haben mit einer anderen ukrainischen Organisation humanitäre Hilfe initiiert und die Skat Foundation hilft uns mit dem Fundraising. Wir haben uns elf der am stärksten betroffenen Gebiete angeschaut, und es sah so aus, als bräuchten sie vor allem medizinische Hilfsgüter für Krankenhäuser und für die Territorialverteidiger. Das sind keine Militärs, aber sie schützen die Gemeinde und sollen die Sicherheit der dort lebenden Menschen gewährleisten.

Gewöhnliche Lebensmittel wie Mehl, Hefe oder sauberes Wasser standen ebenfalls auf der Liste des unmittelbaren Bedarfs. Eine weitere Notwendigkeit war die Versorgung mit Strom. Zuerst dachten wir an Dieselgeneratoren, aber diese sind sehr teuer und schwer zu transportieren. Dann kamen wir auf Solarbatterien, das klappte hervorragend. So können Computer, Lampen oder Handys mit Strom versorgt werden.

Natürlich haben wir versucht, das Sicherheitsrisiko für unsere Partner vor Ort zu minimieren. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Wir haben mit den Gemeinden vereinbart, dass wir uns auf halber Strecke treffen. So konnten die Einheimischen die Hilfsgüter in ihre Ortschaften zurückbringen und damit auf verstecktere Strassen ausweichen, die Nicht-Einheimische weniger kennen.

Wir haben auch eine Kampagne mit dem Namen «Ukraine for Freedom» initiiert. Vor allem aus der Schweiz gab es viel Unterstützung. Jede kleine Anstrengung zählt. Es muss nicht immer eine Riesengeste sein.

Auch im Land selbst gibt es eine grosse Bewegung. Die Leitung des Vereins «Safer Association» verwaltet den Handel mit Hilfsgütern, was für unsere Organisation ein grosser Fortschritt war. Die Ukrainer versuchen alles, was sie können, um den am stärksten betroffenen Menschen zu helfen, beispielsweise die Aufnahme von Flüchtlingen.

Wie würden Sie die Rolle der Frauen in der ukrainischen Gesellschaft beschreiben?

In der ukrainischen Gesellschaft haben die Frauen eine sehr starke Rolle. Das hat viel mit unserer Geschichte zu tun. Aus rechtlicher Sicht war es nicht immer so einfach. Aber mittlerweile ist ein Rahmen für die Gleichstellung der Geschlechter vorhanden.

In gewisser Weise ist die Ukraine aber auch eine traditionelle Gesellschaft, und die Männer versuchen, sich mehr zu «exponieren». Allerdings sind in der aktuellen Kriegssituation viele Männer in der Armee, und die Frauen übernehmen ihre Verantwortung im Management und in allen anderen Bereichen.

Auf der lokalen Regierungsebene gibt es ohnehin viel mehr Frauen im Management. Je höher man aber kommt, desto weniger sind sie vertreten. Dies ist eines der Probleme, die noch angegangen werden müssen. Aber im Allgemeinen sind Frauen unglaublich aktiv. Es gibt viele Organisationen, die von Frauen geleitet werden. Meiner Erfahrung nach sind Bürgermeisterinnen in der Regel sehr effektiv. Wir haben eine Menge grossartiger Beispiele.

Der grösste Unterschied in dieser Kriegssituation ist wahrscheinlich, dass die Menschen, die sich entscheiden, das Land zu verlassen, hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern sind?

Nun, zunächst einmal: Nicht alle Männer sind jetzt in der Armee und kämpfen. In den Militärbüros gibt es registrierte Soldaten in verschiedenen Stadien, eine Art Warteschlange, und sie werden aufgerufen, wenn sie gebraucht werden. Es gibt auch viele Freiwillige. Aber ja, viele Frauen haben das Land verlassen. Für viele von ihnen war das ein Albtraum.

Eine gewisse Zeit lang gab es nur etwa 20 Evakuierungszüge pro Tag aus Kiew. Sie fuhren umsonst, man musste nicht dafür bezahlen. Sie fuhren in den Westen, hauptsächlich nach Polen und in die Tschechische Republik.

Ich war froh, dass ich einen Zug von Kiew nach Polen hatte, denn das war die bequemere Art zu reisen. Bekannte von mir schafften es mit dem Zug nur bis zur Grenze und mussten diese anschliessend zu Fuss überqueren. Sie mussten dort 10 Stunden lang in der Schlange stehen. Gerade mit kleinen Kindern ist das eine unfassbar anstrengende Situation. Es gab glücklicherweise viele Freiwillige, die halfen und es sicherer machten.

Ich würde vermuten, dass mehr Menschen die grossen Städte verlassen haben. Die Menschen in den Dörfern sind vermutlich häufiger zurückgeblieben sind. Sie sind eher traditionell und weniger mobil. Die Frauen, die in den besetzten Dörfern blieben, haben sehr gelitten – vor allem unter sexuellem Missbrauch.

Was können wir hier in der Schweiz tun, um der ukrainischen Bevölkerung zu helfen?

Humanitäre Hilfe – oder sogenannte schnelle Hilfsaktionen – sind unglaublich wichtig. Aber wir müssen auch anfangen, langfristiger zu denken. Man muss sich überlegen, wie wir uns generell erholen können, physisch, psychisch und auch infrastrukturell. Wir müssen die geschädigten Gebiete auf nachhaltige Weise und mit einer Zukunftsperspektive wieder aufbauen.

Ich habe neulich mit einem Freund gesprochen, der zwei junge Töchter hat und sein zu Hause in der Nähe von Bucha verlassen musste. Er sagte mir, er wisse nicht, wie er seinen Töchtern erklären solle, dass einige ihrer Freunde nicht mehr da sein werden, wenn sie zurückkehren. Oder dass sie einige nie wieder sehen werden. Das ist eine andere Realität, aber die Menschen müssen das akzeptieren und damit leben.

Die Ukrainer werden für jede Unterstützung, die sie erhalten, unglaublich dankbar sein. Eine wichtige Botschaft ist, dass die Menschen zurückkehren wollen – in eine andere Heimat – und wir müssen ihnen das ermöglichen.

Kategorie

News

Publiziert am

28.07.2022

Hashtag

#DieWirtschaftsfrau #DWF #Ukraine #Krieg #SkatFoundation #Despro #humanitäreHilfe #Infrastruktur #Wiederaufbau #Gesundheitswesen

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